Das Berner «Zeichen der Erinnerung» (ZEDER)

In enger Zusammenarbeit mit Gemeinden, Schulbehörden, kirchlichen Organisationen und im Dialog mit Betroffenen und Opfern erinnert der Kanton Bern an die Zeit fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Fünf Teilprojekte ermöglichen die Beschäftigung mit ei-nem schwierigen Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte und richten gleichzeitig den Blick nach vorne, damit sich solches Unrecht nie wieder ereignet. Das Berner Zeichen der Erinnerung wird am 25. Mai 2023 lanciert.

Mehr als 2000 Heim- und Verdingkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Zwangsadoptierte, Psychiatrieopfer und Kinder von Fahrenden leben allein im Kanton Bern noch heute. Zehntausende, deren Schicksal in keiner Chronik, deren Leiden in keinem Lebenslauf Erwähnung fand und findet, sind bereits tot. Die schiere Menge an Betroffenen macht deutlich: Die Praxis der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im 19. und 20. Jahrhundert ist ein ausgesprochen dunkles Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte.

Wie auf dem Sklavenmarkt
Im Bauernspiegel 1837 beschreibt Jeremias Gotthelf ein erstes Mal auf eindringliche Weise, wie sechs-, sieben- oder achtjährige Knaben und Mädchen wie Ziegen und Schafe feilgeboten wurden: «Es war fast wie an einem Markttag. Man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück; fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt.»

Bern als Armuts- und Bauernstaat
Der Grund für das im Kanton Bern während weit über hundert Jahren verbreitete Verdingwesen lag in der damaligen ausgesprochenen Armuts- und Bauerngesellschaft. Mädchen und Knaben aus kinderreichen, teilweise bitterarmen Verhältnissen – für welche die Gemeinden seit der Reformation finanziell zu sorgen hatten – sollten als arbeitsame Leihgaben dort aus- und mithelfen, wo in Haus und Hof die tägliche Arbeit ohne Knechte und Mägde nicht bewältigbar war. Dass man dafür blutjunge Kinder einsetzte, schien nicht weiter zu kümmern. Aus Sicht der Behörden wurden damit viel mehr zwei Probleme mit einem Streich gelöst.

Traumatische Geschichten
Es war nicht so, dass allen Betroffenen schweres Leid und Unrecht zugefügt wurde. Und doch: Eine grosse Mehrheit der verdingten und fremdplatzierten Mädchen und Knaben wurde nachhaltig traumatisiert: Verachtung, Ausgrenzung, Ausbeutung, Willkür, massiver Beeinträchtigung physischer und psychischer Integrität bis hin zu schweren sexuellen Übergriffen. Und vergessen wir nicht: Verlassenheitsgefühle, plötzliche und unerwartete Entwurzelung, Einsamkeit und Verlorenheit in jeder Hinsicht haben auch in jenen Fällen zutiefst erschütternde Auswirkungen auf ein Leben, wo das Verdingkind am Ort seiner Fremdplatzierung eine einigermassen menschen-würdige Aufnahme fand.

Zwischen Gleichgültigkeit und Überforderung
Vermittelnde Behörden, einweisende Ämter, Vormünder und auch die Pflegefamilien waren von der Verdingsituation, später auch von der Fremdplatzierung in Heimen und Klöstern oder der Versorgung insbesondere junger Frauen in Haftanstalten, ohne dass dafür ein Urteil vorgelegen wäre, meistens komplett überfordert. Es war eine heute kaum nachvollziehbare Gleichgültigkeit, ein möglicherweise gelegentlich aus Scham, oftmals vor allem aber aus wirtschaftlichem Profitdenken geborenes Desinteresse, das die Körper und Seelen junger Menschen ihrem Schicksal überliess.

Vorreiterinnen und Vorreiter der Aufarbeitung
Es ist dem unablässigen Engagement einer ganzen Reihe von Opfern zu verdanken, dass in den letzten 25 Jahren dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte ans Licht geholt wurde. Es waren mutige und entschlossene Persönlichkeiten, welche ihre Geschichte öffentlich machten, um Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Solidarität einzufordern. Fünf von Ihnen, es sind dies Ursula Biondi, Uschi Waser, Hene Kräuchi, Fred Ryter und Christian Studer, arbeiten beim Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ als Expertinnen und Experten in einem Projektbeirat mit.

«Ein Herz für Verdingkinder»
Als Vorreiterin auf politischer Ebene im Kanton Bern darf in diesem Zusammenhang die heutige Regierungspräsidentin und damalige Wilderswiler Grossrätin Christine Häsler genannt werden, die bereits 2006 mit ihrer Motion «Ein Herz für Verdingkinder» den Regierungsrat aufforderte, die Aufarbeitung der Geschichte von Verdingkindern im Kanton Bern voranzutreiben. In ihrer Motion wies sie darauf hin, dass in der Schweiz zwischen 1845 und 1945 weit über 100'000 Kinder das Schicksal eines Verdingkinds ertragen mussten, ein Viertel davon alleine im Kanton Bern. Der Regierungsrat lehnte die Motion damals ab.

Die Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung
Seither ist viel geschehen. Uns allen noch in guter Erinnerung ist die dank dem grossen Einsatz vom ehemaligen Heimkind Guido Flury initiierte ‘Wiedergutmachungsinitiative’, welche u.a. einen Fonds vorsah, aus dem nachweisliche Opfern entschädigt hätten werden sollen. Die Initiative wurde zurückgezogen, als der Bundesrat mit dem "Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981" (AFZFG) die Anliegen der Initiative mehrheitlich umsetzte.

Ein ‘Zeichen der Erinnerung’
Im Artikel 16 des am 1. April 2017 in Kraft gesetzten AFZFG steht: «Der Bund setzt sich dafür ein, dass die Kantone Zeichen der Erinnerung schaf-fen.» Eine von Grossrat Hervé Gullotti eingereichte Motion beauftragt den Kanton Bern, einen Gedächtnisort für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu schaffen. Sie wurde am 26.November 2019 mit einem überwältigenden Mehr von 131 zu 9 Stimmen bei 7 Enthaltungen als Postulat angenommen. Der Regierungsrat übertrug in der Folge der Staatskanzlei den Auftrag, einen Vorschlag für ein Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ zu entwickeln.

Einladung an 337 Gemeinden
Früh schon war klar, dass die mit der Erarbeitung eines Konzepts beauftragte Projektgruppe davon absehen wollte, irgendwo ein Denkmal zu errichten. Das Zeichen sollte vielmehr dort gesetzt werden, wo die Knaben und Mädchen gelebt und gelitten haben: In möglichst vielen Dörfern und Weilern des ganzen Kantons. Im Herbst 2022 hat sich deshalb der Kanton Bern entschieden, alle 337 bernischen Gemeinden einzuladen, sich in einer für die jeweilige Gemeinde angemessenen Art und Weise am Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ zu beteiligen.

Wirkung im ganzen Kanton
In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen in Gemeindesälen und Sitzungszimmern quer durch den ganzen Kanton machte die Projektleitung deutlich, dass es bei ZEDER nicht darum geht, Schuld zuzuweisen. Vielmehr will das Projekt gerade für junge Leute Geschichte als Fundus zum Lernen für die Zukunft begreifen. Das Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ will mit emotionaler Ansprache den Nährboden für Aufklärung stärken, Anteil am Schicksal von Betroffenen und Opfern nehmen und Wirkung im ganzen Kantonsgebiet entfalten.

Das Engagement von Zentrumsgemeinden
Anfänglich ging die Projektgruppe davon aus, dass sich 50 bis 60 Gemeinden am Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ beteiligen werden. Der Hauptgrund für diese eher zurückhaltende Annahme lag darin, dass es im Kanton Bern Dut-zende von Klein- und Kleinstgemeinden gibt, denen mit Blick auf ihre ressourcenabhängigen Möglichkeiten das Engagement für ein ‘Zeichen der Erinnerung’ möglicherweise nicht leicht fallen dürfte. Umso erfreulicher zu sehen war, dass einzelne Zentrumsgemeinden in ihrem Umland mit kleinen Gemeinwesen Kooperationen anstrebten, um nun ein Zeichen gemeinsam zu setzten.

Deutlich über 100 Gemeinden
Aktuell sind es rund 130 Gemeinden und Kirchgemeinden, die sich für eine Teilnahme am Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ entschieden haben. Damit erreicht das Projekt über 70% der Berner Bevölkerung. In diesem Zusammenhang hilfreich war die Unterstützung durch die Landeskirchen: So waren es an einigen Orten die Kirchgemeinderät:innen oder Pfarrer:innen, welche eine ablehnende Haltung der politischen Gemeinde mit ihrem Einsatz kompensierten.

Kompetenz und Engagement im Projekt-Beirat
Nun steht das Berner Zeichen der Erinnerung vor der Realisierung: Die eingesetzte Projektgruppe unter der Federführung des Staatsarchivs des Kantons Bern und der privaten «Für Angelegenheiten GmbH» hat ein Konzept erarbeitet, das vom Regierungsrat freigegeben wurde. Mitinvolvierte Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Opfergruppen (Verdingkinder, Heimkinder, administrativ Versorgte, Zwangsadoptierte, Jenische und Fahrende) haben das Vorhaben positiv aufgenommen und arbeiten im Rahmen eines Beirats aktiv mit.

Fünf Teilprojekte
Das Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ besteht aus fünf Teilprojekten, die in enger Zusammenarbeit mit Gemeinden, Schulbehörden, kirchlichen Or-ganisationen und mit Betroffenen und Opfern umgesetzt werden:

1 Eine Erinnerungstafel, die bleibt
Eine vom Berner Grafiker Claude Kuhn gestaltete Erinnerungstafel kann von den Gemeinden, Schulen oder Kirchgemeinden an einem selber zu bestimmenden Ort angebracht werden und soll An-lass sein für einen generationenübergreifenden Dialog.

2 Eine Plakatausstellung, die berührt
Begleitet von einem stimmigen Rahmenprogramm soll in möglichst vielen Berner Gemeinden eine Ausstellung von rund 20 Themenplakaten stattfinden. Ziel der von Claude Kuhn in Zusammenarbeit mit Neidhart Grafik und dem Büro für Fotografiegeschichte Bern gestalteten Ausstellung ist die Verbindung eines historischen Themas mit konkreten Biografien und zukunftsgerichteten Fragen.

3 Eine Begegnung, die prägt
In enger Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule PH Bern, dem Staatsarchiv des Kantons Bern und dem Austausch- und Informationsprojekt «Erzählbistro» (www.erzaehlbistro.ch) sollen junge Menschen in erster Linie durch die Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für Recht und Unrecht in gesellschaftlichen Zusammenhängen sensibilisiert werden. Die Unterrichtsmaterialien stehen ab 25. Mai 2023 zur Verfügung.

4 Eine Webseite, die klärt
Eine informative Webseite wird ab dem 25. Mai 2023 einzelne Fragen und Themen vertiefter beleuchten, als Themenkiosk für eine breite Öffentlichkeit funktionieren und eine Orientierung geben in der Fülle an vorhandenem Material zu diesem Thema.

5 Ein Tag, der bewegt
Am 25. Mai 2023 um 17 Uhr wird das Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ im Schlosshof Köniz zeitgleich mit Veranstaltungen in zahlreichen Berner Gemeinden von Regierungspräsidentin Christine Häsler offiziell lanciert. Dabei sollen die Erinnerungstafel und die Plakatausstellung dem Publikum zugänglich gemacht werden.

Der Gemeinderat hat sich für die Erinnerungstafel entschieden.

Im Zentrum einer vom Berner Grafiker Claude Kuhn gestaltete Erinnerungstafel steht ein Reissnagel. Dessen Bedeutung erschliesst sich nicht auf den ersten Blick. Vielmehr fragen wir uns: «Was soll denn dieser Reissnagel hier?»

Der Reissnagel hat zwei Gesichter: Als Mittel zur Befestigung einer Notiz ist er ausgesprochen hilfreich. Liegt er hingegen mit dem Stachel nach oben auf dem Boden, kann er unangenehme Auswirkungen haben.

Mit den Reissnägeln ist es wie mit unseren Erinnerungen: Sie können helfen und sie können schmerzen. So ist es auch mit der Aufarbeitung von Geschichte.

Die Antwort auf «Was soll denn dieser Reissnagel hier»» verbirgt sich hinter dem QR-Code. Dieser gibt unter www.zeichen-der-erinnerung-bern.ch den Blick frei auf ein düsteres Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte.

Die Erinnerungstafel kann ab dem 25. Mai 2023 im Sitzungszimmer in der Gemeindeverwaltung besichtigt werden.

Der Gemeinderat

Zeichen der Erinnerung – Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erzählen (Dauer 5:28 min)
Zeichen der Erinnerung – Erklärvideo (Dauer 7:14 min)



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